Am 3. Februar 1945, gegen Mittag, wölbt sich über Berlin ein Himmel wie aus einem falschen Versprechen: „Bombenwetter“, sagen die Piloten – klar, sonnig, eisig. Fast 1.000 Bomber der 8. USAAF nehmen Kurs auf die Reichshauptstadt. Ihr Ziel: das Regierungsviertel.
Doch starker Wind treibt die tödliche Ladung ab. Rund um den Moritzplatz in Kreuzberg fallen Tausende Bomben. Ganze Straßenzüge versinken im Feuersturm, der die historische Luisenstadt (Mitte/Kreuzberg) fast völlig zerstörte. Unter ihnen: das Haus Oranienstraße 195. Dort lebt die Familie Langer.
Im Keller suchen vier Kinder und ihre Tante Schutz: Theali (14), Renilein (12), Friedelchen (9) und Ottchen (6). Wenige Stunden später sind sie tot – verbrannt im Luftschutzkeller. Ihre Mutter überlebt das Inferno.
Am 9. Mai 2025 – dem Tag des Kriegsendes in Europa – wurde auf dem katholischen Friedhof St. Hedwig II in Berlin-Weißensee eine Bodengedenktafel für diese vier Kinder eingeweiht. Es war ein stiller, sonnendurchfluteter Moment der Rückkehr an einen lange vergessenen Ort – und ein sichtbares Zeichen dafür, dass Erinnerung Verantwortung bedeutet.
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“
Das Bibelzitat aus Jesaja 43,1 – „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ – steht über dieser Geste der Erinnerung. Es bringt den Kern des gemeinsamen Anliegens von Volksbund und Berliner Unterwelten auf den Punkt: Den Opfern von Krieg und Gewalt ihre Namen, ihre Geschichte und ihre Würde zurückzugeben.
„Ich suchte nach meinen Kindern, aber alles war in Flammen“
Hedwig Langer, die Mutter der vier Kinder, überlebte den Angriff. Was sie in den Stunden und Tagen danach durchlebte, hat sie in einem handschriftlichen Bericht festgehalten – ein Dokument mütterlicher Verzweiflung und sprachloser Trauer:
„Gegen Mittag brach das Chaos aus. Unsere Kinder befanden sich im Luftschutzkeller, und ich konnte nicht bei ihnen sein. Nach dem Angriff versuchte ich, zu ihnen zu gelangen, aber der Zugang war blockiert. Schließlich erreichte ich die Ruinen unseres Hauses und erfuhr, dass die Kinder im Luftschutzkeller ums Leben gekommen waren. Die Hitze und die Flammen hatten ihnen keine Chance gelassen.“
„Ich kletterte über Trümmer, lief weinend durch die Straßen, suchte nach ihnen. Aber es war alles verbrannt. Man konnte nichts mehr tun. Ich konnte nur noch ein kleines Händchen bergen.“
Am 10. April 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, wurden die vier Kinder auf dem katholischen Friedhof in Weißensee bestattet – in einem Reihengrab (I 01 Z), das heute nicht mehr existiert. Es wurde überbettet. Doch nun erinnert eine Gedenktafel auf dem Freidhof an ihre Namen, ihr Leben, ihr Leiden.
„Wir erinnern nicht an Zahlen, sondern an Menschen“
Die Gedenktafel wurde durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Landesverband Brandenburg, gestiftet. Oliver Breithaupt, Landesgeschäftsführer, sagte bei der Einweihung:„Wir erinnern hier nicht an Zahlen, sondern an Namen. An Kinder mit einer Geschichte. Ihre Namen sind jetzt wieder an dem Ort, wo sie ruhen.“
Die Geschichte der Familie Langer wurde durch die Berliner Unterwelten e. V. ans Licht gebracht. Vorsitzender Dietmar Arnold berichtete bei der Zeremonie von der Archivarbeit: „Es war ein handgeschriebener Augenzeugenbericht – die Stimme einer Mutter, die nicht vergessen werden darf.“ Verschiedene Vereinskollegen haben fast ein Jahr lang recherchiert, um den Namen und das Schicksal der Kinder, von denen nur die Vornamen bekannt waren, zu ermitteln. Den erschütternden Zeitzeugenbericht der Berlinerin über den Bombenangriff vom 3. Februar 1945 entdeckte der Verein im Online-Magazin der Deichtorhallen Hamburg. Der Name der Verfasserin Hedwig Langer war zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. Sie und ihr Mann mussten aus der Ferne miterleben, wie ihre Kinder im Luftschutzkeller verbrannten. Nach akribischer Detektivarbeit konnte dann das tragische Schicksal der Familie Langer recherchiert werden. Der Vater überlebte den Krieg und starb 1952 in Ost-Berlin. Auch Mutter Hedwig überstand Krieg und Nachkriegszeit – doch ihr weiteres Schicksal verliert sich im Dunkel der Geschichte.
Galina Kalugina, Leiterin der Friedhofsverwaltung der Kath. Kirchengemeinde Bernhard Lichtenberg, ermöglichte das Aufstellen der Gedenktafel und ließ es sich nicht nehmen, einen Kranz niederzulegen. Das Ehepaar Gisela und Hans-Joachim Oppermann, das vom Volksbund von der Geschichte erfahren hatte, übernahm spontan die Finanzierung der Grabplatte – „weil helfen das einzig Richtige war.“
Blumen und ein Vaterunser
Blumen wurden niedergelegt. Für die vier katholischen Kinder sprach die kleine Versammlung ein stilles „Vater unser“. Nur wenige Meter entfernt erinnern Einschusslöcher in der Friedhofsmauer zum Jüdischen Friedhof daran, dass hier gegen Kriegsende drei weitere Menschen erschossen wurden.
Berliner Unterwelten: Tour D – und eine Lesung mit Martina Gedeck
Die Geschichte der Familie Langer bleibt nicht auf diesen Ort beschränkt. Auf Tour D („Tunnel und Bunker Dresdener Straße“) in der Dresdener Straße 10 führen die Berliner Unterwelten Besucher durch ehemalige Luftschutzräume – und erzählen dort unter anderem das Schicksal der Langer-Kinder. Weitere Informationen: https://www.berliner-unterwelten.de/fuehrungen/oeffentliche-fuehrungen/tunnel-und-bunker-dresdener-strasse.html
Bereits am 3. Februar 2025 wurde an die Kinder in einer besonderen Veranstaltung erinnert: Schauspielerin Martina Gedeck las in Berlin aus dem Originalbericht von Hedwig Langer. Ihre Stimme gab dem stummen Leid ein neues Echo – und bewegte alle Anwesenden, darunter Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey, zutiefst.
„Am 3. Februar kommen wir wieder“
Zum Abschluss der Gedenkveranstaltung am 9. Mai 2025 sagte Dietmar Arnold: „Wir werden jedes Jahr am 3. Februar wiederkommen. Damit sie nicht vergessen werden.“ Die vier Kinder der Familie Langer haben nun wieder einen Namen – und einen würdigen Ort ihrer zu Gedenken.